Bones and All | Kritik (2024)

In Luca Guadagninos Kannibalenfilm Bones and All sind weder das strömende Blut noch die durchschnittenen Kehlen noch die Gedärme grenzüberschreitend – sondern sein Eintreten für die Filmkunst als ästhetische Utopie.

Eine Annahme über den Kunstcharakter des Films stellt die gesellschaftliche Vermittlung einer ästhetischen Erfahrung in den Mittelpunkt: Wenn es Filmkunst gibt, dann deswegen, weil sie ihren Zuschauenden ermöglicht, über ihre Existenz zu reflektieren. Dafür liefert sie Bilder, die im besten Falle den Reflexionsraum ausdehnen, die Fantasie wecken und die Möglichkeit für den Blick über das eigene Leben hinaus schaffen. Der „Eater“ in Bones and All ist so ein Bild: Menschen, die den natürlichen Trieb zum Kannibalismus verspüren.

Der letzte Biss im Schutz der Familie

Regisseur Luca Guadagnino tut gut daran, nicht allzu viele horrortypische Regeln aufzustellen, zu erklären, warum, wann, wie oft solche Eater eben eaten müssen. Stattdessen gibt es sie in allen Variationen: Manche suchen sich Essen aus, das ohnehin sterben wird, wie etwa der ziemlich verschrobene Sully (Mark Rylance), der den nahenden Tod inzwischen erschnuppern kann und sich an einsamen Rentnerinnen labt. Aber es gibt auch solche wie Lee (Timothée Chalamet), die ihr Essen auch mal in einen Hinterhalt locken. Maren (Taylor Russell) wiederum weiß noch nichts Genaueres darüber, sie weiß nur, dass sie auf der Pyjamaparty nicht an sich halten kann, wenn ihr ein Finger vors Gesicht gehalten wird.

Es wird der letzte Biss im Schutz der Familie sein: Am 18. Geburtstag wird Maren von ihrem Vater verlassen. Zurück bleiben nur noch eine Geburtsurkunde als Spur zur absenten Mutter und eine Kassette mit der väterlichen Stimme und ihren Erzählungen über ihre kannibalische Kindheit, in der die Babysitterin angeknabbert wurde. Eine Szene als Startschuss für die Verquickung von klassischem Roadmovie, viszeralem Horrorfilm und gefühliger Coming-of-Age-Geschichte, die Bones and All ist. Leichen werden gegessen, Gesichter mit Blut überströmt, Kehlen aufgeschlitzt, Organe aus Körpern gerissen, aber eben auch eine Freundschaft zwischen Lee und Maren geschlossen, die zur Liebe wird. Zwei Kannibalen finden in ihrem gemeinsamen Geheimnis zusammen, verlieben sich und fahren als zwei Heimatlose und Traumatisierte durch die Nicht-Orte der USA, auf den Straßen des flyover country, irgendwann in den 1980er Jahren, zu den sanften Akustikklängen von Trent Reznor und Atticus Ross.

Verwischte Spuren legen

Wie schon in Call Me By Your Name versteht Guadagnino es, Zeit und Raum gerade so viel Konkretion zu verleihen, um seinen Film weder in die absolute Willkürlichkeit abkippen zu lassen noch sich selbst in einen Diskursrahmen einzusperren. Solche Schwebe ist die große Stärke des italienischen Regisseurs. Weil eine zu enge Analogie zwischen Film und Realität das Bestehende nur verdoppelt, anstatt darüber hinauszuweisen. Das Bild des Eaters ist deshalb keine einfache Fährte zu unserer Realität, die sich geradlinig verfolgen ließe. Stattdessen sind in Bones and All die Spuren verwischt, und dabei doch noch Spuren: Assoziationen werden geweckt von den maroden Häusern auf den Dörfern der Great Plains. Davon, wie ein Junge auf einem Jahrmarkt Sex im Maisfeld mit Lee sucht und dafür sterben muss. Von Timothée Chalamets ausgemergeltem Körper, dem beständig die Jeans von der Hüfte rutscht. Davon, dass der kannibalistische Trieb zum Kick werden kann, wenn man seine höchste Stufe erreicht hat und sogar die Knochen isst. Und davon, wie er zum zerstörerischen Exzess wird, in dem man sich selbst zum Fraß vorwirft und mit Armstümpfen in der Nervenheilanstalt sitzt.

Bones and All kommt zwar nie wirklich bei der Aidskrise an, nicht bei der Armut der Reagonomics oder beim brutalen War on Drugs der 1980er Jahre, aber doch bei einem veritablen Bild für all die Verfallserscheinungen, die eine kapitalistische Gesellschaft beständig hervorbringt. Und wenn Guadagnino zwischen den Küssen und Bissen, den Zärtlichkeiten und Brutalitäten, dem Anhalten und Weiterfahren eine Haltung hinterlässt, dann wäre es die Solidarität mit diesem Leid und den Klagen, den Wünschen und Hoffnungen auf ein anderes Leben, die aus solchen Momenten spricht. „Let’s be people, let’s be them for a while“, sagen Maren und Lee zueinander nach andauernder Flucht von dem, was man war, was man i(s)st, was man eigentlich nie wieder sein möchte.

Den Kannibalismus aufheben

Denn manchmal können sie auch in den Diners auf der Road essen, bevor der natürliche Trieb zu stark wird. „It’s got to be fed“, sagt Sully einmal über sein ständiges Verlangen nach Menschenfleisch, aber Guadagnino schenkt seinem jungen Liebespaar ein Bild der Ruhe, in einem eigenen Haus, wo zusammen gekocht wird: „For a minute you made it feel like home“, singt Trent Reznor dann sacht. Wie geeignet also ist das Bild des Eaters für die Krisenphänomene Amerikas? Tatsächlich ist Guadagnino nicht einfach eine Verwechslung zwischen natürlichen Veranlagungen und gesellschaftlich verursachtem Leid passiert. Kannibalismus ist hier kein einfacher rhetorischer Vergleich, der etwas erhellt, sondern ein kritisches Bild: Etwas, das für einen kurzen Moment vor uns auf der Leinwand sublimiert und in die Gesellschaft integriert werden kann. Grenzüberschreitend sind deswegen nicht die blutigen Horrorbilder, wohl aber jener ästhetische Bereich, in dem die Realität aufgehoben ist, auf dass sie darin soweit verfremdet werde und einen Horizont aufmache, der außerhalb von Kunst versperrt scheint. Das Leid zu seinem Recht kommen lassen, nicht einfach nur zu seinem Ausdruck: Dafür steht Bones and All ein.

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